Das Leben - Hildegard von Bingen - Liber divinorum operum - Das Buch vom Wirken Gottes ~ Kongseb



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Das Leben - Hildegard von Bingen Liber divinorum operum - Das Buch vom Wirken Gottes 

Und ich sah mitten im südlichen Sternenhimmel
im göttlichen Mysterium,
ein Bild von überwältigender Schönheit,
wunderbar anzuschuen
Es hatte die Gestalt des Menschen.
Sein Antlitz war von solcher Schönheit und Klarheit,
daß ich leichter in die Sonne hätte blicken können als in dieses Gesicht.
Im bewustsein der liebe die sich offenbart in ihre wirksamkeit,
in der Natur und in der vielfalt der Kreaturen,
sprach die Gestalt also:
Ich bin die höchste feurige Kraft,
ich habe jedweden lebendigen Funken entzündet,
nichts sterbliches geht aus von mir.
Ich bestimme die Wirklichkeit.
Mit meinen höheren Flügeln umschwebe ich den Erdkreis,
mit Weisheit habe ich Alles geordnet.
Ich, das feurige Leben göttlicher Substanz,
erhebe mich flammend über die Schönheiten der Felder,
ich leuchte in den Gewässern
und brenne in der Sonne, Mond und Sternen.
Mit jedem Lufthauch, wie mit unsichtbarem Leben, das alles erhält,
erwecke ich alles zum Leben.
Die Luft lebt im Grünen und Blühen
Die Wasser fließen, wie lebendig.
Die Sonne lebt in ihrem Licht,
und der Mond wird nach seinem Schwinden
wieder vom Licht der Sonne entzündet,
damit er gleichsam von neuem auflebe. Auch die Sterne geben von ihrem Licht,
lebendigen, klaren Schein.
Die Säulen, die das ganze Erdenrund tragen,
habe ich aufgerichtet und ebenso die Windkräfte,
die wiederum untergeordnete Flügel haben,
sozusagen schwächere Winde,
die durch ihre sanfte Kraft jenen mächtigen widerstehen,
damit sie nicht gefährlich ausbrechen.
genauso wie der körper die seele bindet und zusammenhält
damit sie sich nicht verflüchtigt.
Denn wie der Seele Atem den Leib stärkt und festigt,
damit er nicht dahinschwindet, so beleben auch die kräftigeren Winde
die ihnen untergebenen Winde, damit sie ihren Dienst entsprechend versehen.
Und so ruhe ich in aller Wirklichkeit verborgen als feurige Kraft.
Alles brennt so durch mich,
wie der Atem den Menschen unablässig bewegt,
gleich der windbewegten Flamme im Feuer.
Dies alles lebt in seiner Essenz, und kein Tod ist darin.
Denn ich bin das Leben.
Ich bin auch der allumfassende Gedanke,
der den Geist des tönenden Wortes in sich trägt,
durch das die ganze Schöpfung gemacht ist.
Allem hauchte ich Leben ein,
so daß nichts davon in seiner Art sterblich ist.
Denn ich bin das Leben.
Ich bin die vollständige ganzheit des Lebens,
nicht aus Steinen geschlagen, nicht aus Zweigen erblüht,
nicht wurzelnd in eines Mannes Zeugungskraft.
Vielmehr hat alles Leben seine Wurzel in mir.
Der allumfassende Gedanke ist die Wurzel,
das tönende Wort erblühet aus ihr.
Da Gott Geist ist, wie könnte es geschehen, daß Er nicht am Werke sei,
Er, der doch jedes Seiner Werke aufblühen läßt durch den Menschen.
Er schuf ihn ja nach Seinem Bild und Seiner Ähnlichkeit und zeichnete
jedes Seiner Geschöpfe nach festem Maß in diesen Menschen.
Von Ewigkeit lag es im Ratschlüsse Gottes,
daß Er Sein Werk — den Menschen — erschaffe.
Und da Er dieses Werk vollendete,
übergab Er dem Menschen die ganze Schöpfung,
damit er mit ihr wirken könne,
und zwar in genau der gleichen Weise,
wie auch Gott Sein Werk — den Menschen — erschaffe hatte.
Und so diene ich helfend.
Denn alles Leben erglüht aus mir.
Das ewig sich gleichbleibende Leben bin ich,
ohne Anfang und ohne Ende.
Eben dies Leben ist Gott, stetig sich regend und ständig am Werk,
und doch zeigt sich dies eine Leben in dreifacher Kraft.
Denn die Ewigkeit wird „der Vater“ genannt,
das Wort „der Sohn“,
der Lebenshauch, der beide verbindet, „der Heilige Geist“.
Und so hat Gott auch den Menschen gezeichnet;
in dem Körper, Seele und Geist sind.
Daß ich über die Schönheit der irdischen Gefilde flamme, das bedeutet:
Die Erde ist die materie, aus dem Gott den Menschen gebildet,
und daß ich leuchte in den Gewässern,
das deutet auf die Seele, die den ganzen Leib durchdringt,
so wie das Wasser die ganze Erde durchströmt.
Daß ich brenne in Sonne und Mond, weist hin auf den Geist;
sind doch die Sterne unzählbare Worte des universellen Geistes.
Und daß ich mit dem Lufthauch wie mit unsichtbarem Leben,
das alles erhält, das All lebensvoll erwecke, das bedeutet:
Durch Luft und Wind wird das, was im Wachstum reift,
belebt und erhalten, und es weicht in nichts von dem ab,
was in ihm wahrhaft ist.

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