In meiner kleinen Erinnerung an den 100. Geburtstag der Science-Fiction-Illustrators H. R. van Dongen in der vorigen Woche ging es, unter anderem, auch darum, ob diese Bebilderungen, diese Ausmalungen künftiger Zeiten einen gewissen überzeitlichen, um nicht zu sagen zeitlosen Reiz besitzen, oder ob sie notwendigerweise eine Patina annehmen, die ihnen den Stempel ihrer Entstehungszeit aufprägt, der sie, im schlechtesten Fall, späteren Betrachtern nur noch als bizarres Kuriosum erscheinen läßt. Daß gerade Bilder und Texte, die Zukünftiges imaginieren, hier besonders betroffen sind, zeigt jeder Blick in die Geschichte der SF, in der sich die alten Buch- und Magazintitelbilder finden, ebenso das Betrachten von Filmen, die älter als drei oder vier Jahrzehnte sind. (Es fällt freilich auf, daß dieses "Altern der Zukunft" etwa ab den späten 1970er Jahren bis zur Mitte der neunziger Jahre stark nachgelassen hat. Ein Film wie Ridley Scotts "Alien" von 1979 wirkt weit weniger verstaubt als die namhaften Produktionen des Genres, die nur zehn Jahre davor entstanden sind, etwa "Planet of the Apes" (1968), "Barbarella" (1967), oder Richard Fleischers "Fantastic Voyage" von 1966. (Stanley Kubricks "2001 - A Space Odyssey" bildet hier die absolute Ausnahme. Das ist nicht allein der sich rasant entwickelenden Tricktechnik geschuldet (Kubrick arbeitete wie Generationen von Regisseuren mit Miniaturen und Rückprojektionen; sondern vor allem eine Frage der inszenierten Ästethik.
Für die literarischen Hervorbringungen des Genres gilt Gleiches. Abgesehen von der Tatsache, daß ein Großteil der Büchern und Erzählungen schon von Anfang an dürftig, schlecht geschrieben, schlecht konzipiert, und zumeist so lieb- wie talentlose Gebrauchsliteratur darstellen: das teilen sie mit jedem populären Genre. Was SF-Texte über die Jahrzehnte hinweg am Leben erhalten kann, dürften hauptsächlich zwei Facetten sein. Zum einen die Erschließung und Behandlung neuer Themen, neuer Aspekte, Varianten zu vorher behandelten Themen (so daß diese Texte in einen Dialog der Ideen treten) - und vor allem eine Atmosphäre, eine Stimmung, die den Leser einnimmt. H. G. Wells' "Zeitmaschine" wirkt bis heute nicht nur deshalb taufrisch, weil der Autor seine Geschichte wie eine Matrjoschka aufgebaut hat und sich alle zwanzig Seiten eine neue, völlig konträre Offenbarung vor dem Leser auftut, sondern, weil die Erde der fernen Zukunft in knappen, aber unvergeßlichen Bildern gezeigt wird, die sich dem Gedächtnis des Lesers einbrennen - von der metallenen Sphinx, von der der Zeitfahrer strandet bis zum verlöschenden Sonnenball über dem erstarrten Meer am Ende der irdischen Tage.
Es ist von einer gewissen Ironie, daß der Autor, dem es als erstem vergönnt gewesen ist, nach dem zweiten Weltkrieg (zumindest für die US-amerikanische Leserschaft) außerhalb des Ghettos der bunten Groschenheftliteratur der "Pulpmagazine" rezipiert und massenhaft gelesen zu werden, und der für mindestens zwei Generationen von jungen Lesern die erste intensive Begegnung mit diesen Themen und Versatzstücken darstellte, und dessen beste Texte ihre Intensität genau derselben prägenden Bildfindungskraft verdanken, auf der anderen Seite eine Zeitgebundenheit zeigt wie kaum ein anderer der großen Vertreter dieser Literatur, eine Zeitmarke, die seinen Texten den Stempel "1950" (plus/minus fünf Jahre) und dem, was sie schildern, das Datum "Main Street, USA, Mittlerer Westen, 1928" aufprägen. (Daß Sherwood Andersons collagistische Tour d'horizon durch dieses Milieu von 1919, "Winesburg, Ohio" Bradbury als Modell sowohl für seine Chronik der Marsbesiedelung in The Martian Chronicles wie auch der nostalgisch-kitschigen Inzenierung seiner Kindheitserinnerungen und -phantasien in "Green Town" in Dandelion Wine (1957) gedient hat, ist kein Geheimnis.)
Ray Bradbury, dessen Geburtstag am 22. August 1920 in Waukegan in Illinois vor vier Tagen zum hundertsten Mal jährte, kam als Autor aus diesem Milieu der bunten Abenteuer- und Unterhaltungsliteratur, wo er seit 1943 seine Erzählungen hauptsächlich im "Unique Magazine" Weird Tales untergebracht hatte, aber auch zahlreiche Texte für Detektiv- und Krimimagazine verfaßt hatte. Bei diesen Stories (die zuerst 1947 in August Derleths Kleinverlag Arkham House in der Sammlung The October Country in Buchform gesammelt wurden) handelte es sich aber in der Regel nicht um atemlos auf Spannung gebaute Texte, sondern um elegische, oft fast statisch in der Schwebe verharrende Stimmungsbilder, Prosagedichte, die den Gang durch verlassene nächtliche Straßen, die glutflirrende Hitze des Himmels über den heißen Hochsommerebenen des amerikanischen Südens evozieren, hinter denen sich ein bedrohliches Element aufbaut. Die eigentliche "Fabel" dieser Erzählungen ist oft recht schlicht, und wenn sie auf eine "Moral-von-der-Geschicht" hin gebaut sind, wie dies teilweise schon mit den Erzählungen, die in den Mars-Chroniken gebündelt wurden, beginnt (etwa der plakativen Schilderung des Kampfes um Bürgerrechte in "Way Up in the Middle of the Air") konterkarieren sie sich, bei allen guten Intentionen, selbst. Plakative Parabeln sind zwar bis heute im Genre gängig, das macht sie aber nicht goutierbarer, auch nicht im Fall Bradburys. Ungleich wirkungsvoller ist etwa ein zurückgenommenes Stück wie "The Last Night of the World" aus The Illustrated Man, in dem dem älteren Ehepaar der Erzählung im Traum die Gewißheit zukommt, daß die kommende Nacht die letzte auf Erden sein wird ("there are bombers everywhere in the air"), ein Traum, den alle Bekannten teilen, und das sich in seiner melancholischen Routine um kein Iota von dieser Aussicht beirren läßt.
Ich habe das Nötige zum Oeuvre Bradburys in meinem Nachruf auf ihn vor acht Jahren, im Sommer 2012, in meinem ersten Beitrag zu diesem Netztagebuch, gesagt und möchte deshalb an dieser Stelle nur darauf verweisen ("Wir sind alle Marsianer"). Bradburys Milieus eignet die Besonderheit, daß sie schon, als er sie evozierte, eine solche Patina des Vergangenen eignete. In den "Green Town"-Schilderungen bewußt, weil es sich um die Beschwörungen der Kleinstadtatmosphäre aus den Augen eines Kindes handelt. Aber auch der Mars des Marschroniken war, neben dem Stimmungsbild eines Wüstenplaneten, in dem die alten Projektionen von Marskanälen und einer sterbenden Welt wiederkehrten, auch Schauplatz psychischer Regression als Wunsch- wie als Albtraum. Daß der Raumschiff-Kapitän und seine Mannschaft sich in "Mars Is Heaven!" umstandslos in kleine Jungs verwandeln, weil ihnen die Marsbewohner die Illusion vermitteln, sie seien eben bei Großmuttern und ihrem Apfelkuchen gelandet (bis sie des Nachts die Ahnung überfällt, der Bruder im Bett auf der anderen Seite des Zimmers könnte KEIN MENSCH sein), hat für zwei Generationen junger Leser, denen das Buch in der Schulbibliothek in die Hände fiel, für eine Frisson gesorgt, die die "Tales of the Grotesque and Arabesque" Poes vorwegnahm. Aber genau solche Elemente könnten dafür sorgen, daß der Appeal dieser Geschichten nicht weitergegeben werden kann. Vielleicht liegt hier ein Fall von jener spezifischen Alters-Empfindlichkeit vor, daß man als Leser für derlei nur entflämmbar ist, wenn man es im Alter zwischen sagen wir acht und zwölf Jahren entdeckt (das bekannteste Beispiel eines solchen Buches war lange Zeit Alain-Fourniers Le Grand Meaulnes von 1913; ein Buch, das seine Sogwirkung nur entfaltet, oder jedenfalls entfaltete, wenn man, und zwar aus eigener Kraft, im Alter zwischen 14 und 16 Jahren darüber stolperte); vielleicht ist die Haltbarkeit jener spezifischen Mélange aus Traumverlorenheit, Naivität und dem Ambiente von Norman-Rockwell-Interieurs auch schlicht abgelaufen.
Ob Bradbury "heute" noch "gelesen" wird (ob nun als nostalgischer Rückgriff auf die eigene Kindheitslektüre oder in jenem emphatisch-entdeckerischen der ersten Begegnung, die einem die bislang ungeahnten Möglichkeiten erzählerischer Phantasie offenbart), ist naturgemäß schwer auszumachen. Meine eigene letzte Lektüre entsprang einem leicht frivolen Projekt, die einzelnen Texte der Marschroniken wieder zu lesen, und zwar zu jenem Zeitpunkt, den der Autor, als er sie Anfang 1950 im Zug der Vorbereitung auf die Buchveröffentlichung bei Doubleday Books, jeweils mit einem Handlungsdatum versah und dem Mosaik ein chronologisches Gerüst verschaffte. Der Zyklus setzt im Januar und August 1999 ein; die Landnahme der Siedler endet mit dem Ausbruch eines Nuklearkriegs auf der Erde im November 2005, der die Millionen von Neusiedlern in ihre Heimat zurückkehren läßt; das Buch endet mit drei Codas (Codae? Coden?) aus dem Jahr 2026, mit der Schilderung des verlassenen vollautomatischen Hauses in "There Will Come Soft Rains" auf der vernichteten Erde, das seine tägliche Routine abspielt, während von seinen Bewohnern nur noch die Silhouetten zeugen, die der Blitz der Atombombe in die Hauswand eingebrannt hat, und "The Million Year Picnic", mit der Rückkehr von Überlebenden des Infernos auf den Roten Planeten, die die Nabelschnur zur alten Heimat ein für alle Mal gekappt haben, um für die Menschheit einen Neuanfang zu versuchen. In leichten Dosen, und bei den poetischen Stimmungsbildern wie "Night Meeting" oder "The Musicians" läßt sich das durchaus noch goutieren; aber die Naivität des Erdlings und des Marsianers in der ersten Erzählung, die sich zur Geisterstunde in der roten Sandwüste begegnen und nicht erkennen wollen, daß sie beide für ihr Gegenüber ein Phantom darstellen, wird aufgesetzt. Oft wirkt es, als habe hier jemand versucht ein Tableau aus Samuel Beckett mit bunten Fingerfarben auszumalen.
Was bleibt also von Bradburys Texten? Die Zukunft, die er schildert, ist jetzt, und in gewisser erster Näherung läßt sich eine Antwort geben. Der Text, mit dem in den USA am Wochenende an seinen 100. Geburtstag erinnert wurde, war die Geschichte, die in seinem Werk wie ein seltsamer Solitär aufscheint: die Geschichte vom Feuerwehrmann Montag, dessen Pflicht es ist, jedes einzelne Buch, das bei den Bewohnern seiner dystopischen Zukunftsvision noch gefunden werden kann, zu verbrennen und der im Lauf seiner Tätigkeit zum Leser und zum Gegner des Systems wird. Im "Ray Bradbury Readathon" fand eine vollständige Lesung von Fahrenheit 451 statt, gelesen von Mitarbeitern der Library of Congress, der Los Angeles Public Library, und einer ganzen Reihe von Autoren und mit dem Genre assoziierten Schauspielern wie Neil Gaiman und William Shatner. (Das Audio dieser Lesung läßt sich hier nachhören.) Bradburys Altraumzukunft verdankt sich der Atmosphäre der Jahre des McCarthyismus, aber sie gewinnt durch die Absolutheit der Vision einer Tyrannis, die jegliche Literatur, jeglichen kreativen Impuls auf immer ersticken will, eine eingenständige Dimension, die über die dytopische Fortschreibung befürchteter Gegenwartstendenzen weit hinausgeht. Daß Bradburys Schlußtableau der "Lebenden Bücher", die die Texte der Vergangenheit im Gedächtnis gespeichert haben und sie durch unablässige Repetition bewahren, selbst eine zutiefst unheimliche Volte darstellt und nicht nur einen vagen Hoffnungsschimmer, macht Francois Truffauts Verfilmung von 1966 deutlich: dieses Wissen ist nicht mehr lebendig, sondern so erstarrt und rituell wie die "Vier Klassiker und fünf Bücher," die Anwärter auf Staatsdienste über sieben Jahrhunderte im kaiserlichen China sklavisch auswendig lernen und fehlerfrei repetieren können mußten.
Aber, Stichwort "überraschende Schlußvolte": wann, würden Sie schätzen, ist Fahrenheit 451, dieses Plädoyer gegen Zensur, gegen Bücherverbrennungen und die Knechtung des freien Geistes, zum erstenmal auf Russisch erschienen? (Und zwar in Russland bzw. der Sowjetunion selbst, nicht in einem russischsprachigen Exilverlag, so wie etwa Vladimir Nabokovs Lolita in seiner eigenen Übersetzung 1971 auf Russisch zuerst 1971 in Jerusalem verlegt worden ist.) Nach dem Ende der Sowjetunion? Während der Glasnost'-Jahre unter Gorbatschow, als Solschenizyn wieder gedruckt wurde und Bücher wie Jerfejews Die Moskauer Schönheit? Während der durchlässigeren literarischen Klimaperioden Mitte der siebziger oder Ende der sechziger Jahre? Falsch.
(Umschlag und Titelbild der russischen Erstübersetzung)
451° (градус) по Фаренгейту (451 gradis po fahrengeiti) erschien zuerst in der Übersetzung von Т. Шинкарь (T. Schinkar) im Moskauer Verlag für ausländische Literatur (Иностранная литература/Inostrannaja literatura) im Jahr 1956. Und dies, nachdem in diversen Parteizeitschriften sehr ablehnende Berichte über das amerikanische Original publiziert worden waren. Kenner der sowjetischen Literatur jener Jahre haben vermutet, daß es sich um das einzige fremdländische Buch handeln dürfte, dem dieses "offizelle" Verdammungsurteil nicht geschadet hat. (Bradbury gehörte schon in den 1950er Jahre zu den oft übersetzten westlichen Autoren, und es könnte sein, daß seine Popularität bei den Lesern, und die Einschätzung, es könnte sich bei diesem Genre um harmlose Jugendunterhaltung handeln, hier die Zensur aufs Glatteis geführt hat.) Diese Ausgabe erlebte insgesamt 54 Auflagen; die nächste Übertragung folgte dann 1999 durch V. Babenko.
In meiner kleinen Erinnerung an den 100. Geburtstag der Science-Fiction-Illustrators H. R. van Dongen in der vorigen Woche ging es, unter anderem, auch darum, ob diese Bebilderungen, diese Ausmalungen künftiger Zeiten einen gewissen überzeitlichen, um nicht zu sagen zeitlosen Reiz besitzen, oder ob sie notwendigerweise eine Patina annehmen, die ihnen den Stempel ihrer Entstehungszeit aufprägt, der sie, im schlechtesten Fall, späteren Betrachtern nur noch als bizarres Kuriosum erscheinen läßt. Daß gerade Bilder und Texte, die Zukünftiges imaginieren, hier besonders betroffen sind, zeigt jeder Blick in die Geschichte der SF, in der sich die alten Buch- und Magazintitelbilder finden, ebenso das Betrachten von Filmen, die älter als drei oder vier Jahrzehnte sind. (Es fällt freilich auf, daß dieses "Altern der Zukunft" etwa ab den späten 1970er Jahren bis zur Mitte der neunziger Jahre stark nachgelassen hat. Ein Film wie Ridley Scotts "Alien" von 1979 wirkt weit weniger verstaubt als die namhaften Produktionen des Genres, die nur zehn Jahre davor entstanden sind, etwa "Planet of the Apes" (1968), "Barbarella" (1967), oder Richard Fleischers "Fantastic Voyage" von 1966. (Stanley Kubricks "2001 - A Space Odyssey" bildet hier die absolute Ausnahme. Das ist nicht allein der sich rasant entwickelenden Tricktechnik geschuldet (Kubrick arbeitete wie Generationen von Regisseuren mit Miniaturen und Rückprojektionen; sondern vor allem eine Frage der inszenierten Ästethik.
Für die literarischen Hervorbringungen des Genres gilt Gleiches. Abgesehen von der Tatsache, daß ein Großteil der Büchern und Erzählungen schon von Anfang an dürftig, schlecht geschrieben, schlecht konzipiert, und zumeist so lieb- wie talentlose Gebrauchsliteratur darstellen: das teilen sie mit jedem populären Genre. Was SF-Texte über die Jahrzehnte hinweg am Leben erhalten kann, dürften hauptsächlich zwei Facetten sein. Zum einen die Erschließung und Behandlung neuer Themen, neuer Aspekte, Varianten zu vorher behandelten Themen (so daß diese Texte in einen Dialog der Ideen treten) - und vor allem eine Atmosphäre, eine Stimmung, die den Leser einnimmt. H. G. Wells' "Zeitmaschine" wirkt bis heute nicht nur deshalb taufrisch, weil der Autor seine Geschichte wie eine Matrjoschka aufgebaut hat und sich alle zwanzig Seiten eine neue, völlig konträre Offenbarung vor dem Leser auftut, sondern, weil die Erde der fernen Zukunft in knappen, aber unvergeßlichen Bildern gezeigt wird, die sich dem Gedächtnis des Lesers einbrennen - von der metallenen Sphinx, von der der Zeitfahrer strandet bis zum verlöschenden Sonnenball über dem erstarrten Meer am Ende der irdischen Tage.
Es ist von einer gewissen Ironie, daß der Autor, dem es als erstem vergönnt gewesen ist, nach dem zweiten Weltkrieg (zumindest für die US-amerikanische Leserschaft) außerhalb des Ghettos der bunten Groschenheftliteratur der "Pulpmagazine" rezipiert und massenhaft gelesen zu werden, und der für mindestens zwei Generationen von jungen Lesern die erste intensive Begegnung mit diesen Themen und Versatzstücken darstellte, und dessen beste Texte ihre Intensität genau derselben prägenden Bildfindungskraft verdanken, auf der anderen Seite eine Zeitgebundenheit zeigt wie kaum ein anderer der großen Vertreter dieser Literatur, eine Zeitmarke, die seinen Texten den Stempel "1950" (plus/minus fünf Jahre) und dem, was sie schildern, das Datum "Main Street, USA, Mittlerer Westen, 1928" aufprägen. (Daß Sherwood Andersons collagistische Tour d'horizon durch dieses Milieu von 1919, "Winesburg, Ohio" Bradbury als Modell sowohl für seine Chronik der Marsbesiedelung in The Martian Chronicles wie auch der nostalgisch-kitschigen Inzenierung seiner Kindheitserinnerungen und -phantasien in "Green Town" in Dandelion Wine (1957) gedient hat, ist kein Geheimnis.)
Ray Bradbury, dessen Geburtstag am 22. August 1920 in Waukegan in Illinois vor vier Tagen zum hundertsten Mal jährte, kam als Autor aus diesem Milieu der bunten Abenteuer- und Unterhaltungsliteratur, wo er seit 1943 seine Erzählungen hauptsächlich im "Unique Magazine" Weird Tales untergebracht hatte, aber auch zahlreiche Texte für Detektiv- und Krimimagazine verfaßt hatte. Bei diesen Stories (die zuerst 1947 in August Derleths Kleinverlag Arkham House in der Sammlung The October Country in Buchform gesammelt wurden) handelte es sich aber in der Regel nicht um atemlos auf Spannung gebaute Texte, sondern um elegische, oft fast statisch in der Schwebe verharrende Stimmungsbilder, Prosagedichte, die den Gang durch verlassene nächtliche Straßen, die glutflirrende Hitze des Himmels über den heißen Hochsommerebenen des amerikanischen Südens evozieren, hinter denen sich ein bedrohliches Element aufbaut. Die eigentliche "Fabel" dieser Erzählungen ist oft recht schlicht, und wenn sie auf eine "Moral-von-der-Geschicht" hin gebaut sind, wie dies teilweise schon mit den Erzählungen, die in den Mars-Chroniken gebündelt wurden, beginnt (etwa der plakativen Schilderung des Kampfes um Bürgerrechte in "Way Up in the Middle of the Air") konterkarieren sie sich, bei allen guten Intentionen, selbst. Plakative Parabeln sind zwar bis heute im Genre gängig, das macht sie aber nicht goutierbarer, auch nicht im Fall Bradburys. Ungleich wirkungsvoller ist etwa ein zurückgenommenes Stück wie "The Last Night of the World" aus The Illustrated Man, in dem dem älteren Ehepaar der Erzählung im Traum die Gewißheit zukommt, daß die kommende Nacht die letzte auf Erden sein wird ("there are bombers everywhere in the air"), ein Traum, den alle Bekannten teilen, und das sich in seiner melancholischen Routine um kein Iota von dieser Aussicht beirren läßt.
Ich habe das Nötige zum Oeuvre Bradburys in meinem Nachruf auf ihn vor acht Jahren, im Sommer 2012, in meinem ersten Beitrag zu diesem Netztagebuch, gesagt und möchte deshalb an dieser Stelle nur darauf verweisen ("Wir sind alle Marsianer"). Bradburys Milieus eignet die Besonderheit, daß sie schon, als er sie evozierte, eine solche Patina des Vergangenen eignete. In den "Green Town"-Schilderungen bewußt, weil es sich um die Beschwörungen der Kleinstadtatmosphäre aus den Augen eines Kindes handelt. Aber auch der Mars des Marschroniken war, neben dem Stimmungsbild eines Wüstenplaneten, in dem die alten Projektionen von Marskanälen und einer sterbenden Welt wiederkehrten, auch Schauplatz psychischer Regression als Wunsch- wie als Albtraum. Daß der Raumschiff-Kapitän und seine Mannschaft sich in "Mars Is Heaven!" umstandslos in kleine Jungs verwandeln, weil ihnen die Marsbewohner die Illusion vermitteln, sie seien eben bei Großmuttern und ihrem Apfelkuchen gelandet (bis sie des Nachts die Ahnung überfällt, der Bruder im Bett auf der anderen Seite des Zimmers könnte KEIN MENSCH sein), hat für zwei Generationen junger Leser, denen das Buch in der Schulbibliothek in die Hände fiel, für eine Frisson gesorgt, die die "Tales of the Grotesque and Arabesque" Poes vorwegnahm. Aber genau solche Elemente könnten dafür sorgen, daß der Appeal dieser Geschichten nicht weitergegeben werden kann. Vielleicht liegt hier ein Fall von jener spezifischen Alters-Empfindlichkeit vor, daß man als Leser für derlei nur entflämmbar ist, wenn man es im Alter zwischen sagen wir acht und zwölf Jahren entdeckt (das bekannteste Beispiel eines solchen Buches war lange Zeit Alain-Fourniers Le Grand Meaulnes von 1913; ein Buch, das seine Sogwirkung nur entfaltet, oder jedenfalls entfaltete, wenn man, und zwar aus eigener Kraft, im Alter zwischen 14 und 16 Jahren darüber stolperte); vielleicht ist die Haltbarkeit jener spezifischen Mélange aus Traumverlorenheit, Naivität und dem Ambiente von Norman-Rockwell-Interieurs auch schlicht abgelaufen.
Ob Bradbury "heute" noch "gelesen" wird (ob nun als nostalgischer Rückgriff auf die eigene Kindheitslektüre oder in jenem emphatisch-entdeckerischen der ersten Begegnung, die einem die bislang ungeahnten Möglichkeiten erzählerischer Phantasie offenbart), ist naturgemäß schwer auszumachen. Meine eigene letzte Lektüre entsprang einem leicht frivolen Projekt, die einzelnen Texte der Marschroniken wieder zu lesen, und zwar zu jenem Zeitpunkt, den der Autor, als er sie Anfang 1950 im Zug der Vorbereitung auf die Buchveröffentlichung bei Doubleday Books, jeweils mit einem Handlungsdatum versah und dem Mosaik ein chronologisches Gerüst verschaffte. Der Zyklus setzt im Januar und August 1999 ein; die Landnahme der Siedler endet mit dem Ausbruch eines Nuklearkriegs auf der Erde im November 2005, der die Millionen von Neusiedlern in ihre Heimat zurückkehren läßt; das Buch endet mit drei Codas (Codae? Coden?) aus dem Jahr 2026, mit der Schilderung des verlassenen vollautomatischen Hauses in "There Will Come Soft Rains" auf der vernichteten Erde, das seine tägliche Routine abspielt, während von seinen Bewohnern nur noch die Silhouetten zeugen, die der Blitz der Atombombe in die Hauswand eingebrannt hat, und "The Million Year Picnic", mit der Rückkehr von Überlebenden des Infernos auf den Roten Planeten, die die Nabelschnur zur alten Heimat ein für alle Mal gekappt haben, um für die Menschheit einen Neuanfang zu versuchen. In leichten Dosen, und bei den poetischen Stimmungsbildern wie "Night Meeting" oder "The Musicians" läßt sich das durchaus noch goutieren; aber die Naivität des Erdlings und des Marsianers in der ersten Erzählung, die sich zur Geisterstunde in der roten Sandwüste begegnen und nicht erkennen wollen, daß sie beide für ihr Gegenüber ein Phantom darstellen, wird aufgesetzt. Oft wirkt es, als habe hier jemand versucht ein Tableau aus Samuel Beckett mit bunten Fingerfarben auszumalen.
Was bleibt also von Bradburys Texten? Die Zukunft, die er schildert, ist jetzt, und in gewisser erster Näherung läßt sich eine Antwort geben. Der Text, mit dem in den USA am Wochenende an seinen 100. Geburtstag erinnert wurde, war die Geschichte, die in seinem Werk wie ein seltsamer Solitär aufscheint: die Geschichte vom Feuerwehrmann Montag, dessen Pflicht es ist, jedes einzelne Buch, das bei den Bewohnern seiner dystopischen Zukunftsvision noch gefunden werden kann, zu verbrennen und der im Lauf seiner Tätigkeit zum Leser und zum Gegner des Systems wird. Im "Ray Bradbury Readathon" fand eine vollständige Lesung von Fahrenheit 451 statt, gelesen von Mitarbeitern der Library of Congress, der Los Angeles Public Library, und einer ganzen Reihe von Autoren und mit dem Genre assoziierten Schauspielern wie Neil Gaiman und William Shatner. (Das Audio dieser Lesung läßt sich hier nachhören.) Bradburys Altraumzukunft verdankt sich der Atmosphäre der Jahre des McCarthyismus, aber sie gewinnt durch die Absolutheit der Vision einer Tyrannis, die jegliche Literatur, jeglichen kreativen Impuls auf immer ersticken will, eine eingenständige Dimension, die über die dytopische Fortschreibung befürchteter Gegenwartstendenzen weit hinausgeht. Daß Bradburys Schlußtableau der "Lebenden Bücher", die die Texte der Vergangenheit im Gedächtnis gespeichert haben und sie durch unablässige Repetition bewahren, selbst eine zutiefst unheimliche Volte darstellt und nicht nur einen vagen Hoffnungsschimmer, macht Francois Truffauts Verfilmung von 1966 deutlich: dieses Wissen ist nicht mehr lebendig, sondern so erstarrt und rituell wie die "Vier Klassiker und fünf Bücher," die Anwärter auf Staatsdienste über sieben Jahrhunderte im kaiserlichen China sklavisch auswendig lernen und fehlerfrei repetieren können mußten.
Aber, Stichwort "überraschende Schlußvolte": wann, würden Sie schätzen, ist Fahrenheit 451, dieses Plädoyer gegen Zensur, gegen Bücherverbrennungen und die Knechtung des freien Geistes, zum erstenmal auf Russisch erschienen? (Und zwar in Russland bzw. der Sowjetunion selbst, nicht in einem russischsprachigen Exilverlag, so wie etwa Vladimir Nabokovs Lolita in seiner eigenen Übersetzung 1971 auf Russisch zuerst 1971 in Jerusalem verlegt worden ist.) Nach dem Ende der Sowjetunion? Während der Glasnost'-Jahre unter Gorbatschow, als Solschenizyn wieder gedruckt wurde und Bücher wie Jerfejews Die Moskauer Schönheit? Während der durchlässigeren literarischen Klimaperioden Mitte der siebziger oder Ende der sechziger Jahre? Falsch.
(Umschlag und Titelbild der russischen Erstübersetzung)
451° (градус) по Фаренгейту (451 gradis po fahrengeiti) erschien zuerst in der Übersetzung von Т. Шинкарь (T. Schinkar) im Moskauer Verlag für ausländische Literatur (Иностранная литература/Inostrannaja literatura) im Jahr 1956. Und dies, nachdem in diversen Parteizeitschriften sehr ablehnende Berichte über das amerikanische Original publiziert worden waren. Kenner der sowjetischen Literatur jener Jahre haben vermutet, daß es sich um das einzige fremdländische Buch handeln dürfte, dem dieses "offizelle" Verdammungsurteil nicht geschadet hat. (Bradbury gehörte schon in den 1950er Jahre zu den oft übersetzten westlichen Autoren, und es könnte sein, daß seine Popularität bei den Lesern, und die Einschätzung, es könnte sich bei diesem Genre um harmlose Jugendunterhaltung handeln, hier die Zensur aufs Glatteis geführt hat.) Diese Ausgabe erlebte insgesamt 54 Auflagen; die nächste Übertragung folgte dann 1999 durch V. Babenko.
U.E.
© U.E. Für Kommentare bitte hier klicken.
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